Cover
Titel
Colonial Internationalism and the Governmentality of Empire, 1893–1982.


Autor(en)
Wagner, Florian
Erschienen
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
£ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike von Hirschhausen, Lehrstuhl für Europäische und Neueste Geschichte, Universität Rostock

Florian Wagner hat eine fundierte Studie zu einer bislang wenig bekannten Organisation vorgelegt, dem „International Colonial Institute“ (ICI). Das Institut existierte von 1893 bis 1982 und sah seine Aufgabe darin, Strategien zur „Regierbarkeit“ der europäischen Kolonien in Asien und Afrika zu entwerfen und diese auch durch eine engere Vernetzung mit den jeweiligen Kolonialbürokratien umzusetzen. Die Studie fügt sich damit gut in die derzeitige Forschungstendenz ein, verstärkt die Beziehungen, Verflechtungen und Rivalitäten zwischen Empires zu untersuchen, und damit auch für Empires den methodischen Weg zu gehen, den die transnationale Geschichte für Nationen und Nationalstaaten aufgezeigt hat.1 Zu besichtigen ist mithin auf 350 engstens bedruckten Seiten und in einer komplexen Sprache eine Organisation, die jenseits staatlicher Macht, aber verbunden mit ihr, Konzepte eines internationalen Kolonialismus im 20. Jahrhundert entwarf.

In Kapitel eins zeichnet Wagner die Entstehung des Internationalen Kolonialinstituts nach, das 1893 in Den Haag von führenden Kolonialexperten, Beamten, Philanthropen und Unternehmern gegründet wurde. 20 Jahre nach der Gründung umfasste das Mitgliederverzeichnis 136 Mitglieder aus rund 15 Ländern, die überwiegend maritime Kolonien, aber auch kontinentale Randregionen besaßen, darunter Frankreich, die Niederlande, Belgien, Großbritannien, das Deutsche Kaiserreich, Italien, Spanien und Russland. Deutlich wird die Überlappung von nationalen und internationalen Interessen auch daran, dass die Mitglieder sich von ihrer Kooperation einerseits eine Unterstützung des eigenen Kolonialreichs versprachen, andererseits aber auch ein Forum wünschten, um sich jenseits ihres engeren nationalen Rahmens als internationale Experten profilieren zu können.

Kapitel zwei mit dem schwer verdaulichen Titel „A Transcolonial Governmentality Sui Generis: The Invention of Emulative Development“ beschreibt die Formen und Themen, mit denen übergreifende Kolonisierungsstrategien produziert wurden. Ein Beispiel dafür war die Kongo-Eisenbahn, die in den 1890er-Jahren von Matadí nach Leopoldville (heute Kinshasa) führte. Wie sehr europäische Visionen „internationaler Entwicklung“ sich von der Realität des weitgehend belgisch finanzierten Projekts zur Ausbeutung lokaler Rohstoffe und Arbeitskräfte unterschieden, wird hier deutlich. Die durchgängige Frage, inwieweit Diskurse und nationale Gebrauchsanweisungen für angehende Kolonialbeamte wirklich zu einer internationalen Praxis des Kolonialismus führten, macht Kapitel drei besonders deutlich, welches die entsprechenden Ausbildungsreformen der Mitgliedsstaaten instruktiv beleuchtet, das Institut aber gleichzeitig primär als Lobbyisten und Stimulator dastehen lässt.

Auch die Agrartechniken, die Florian Wagner in Kapitel vier anhand des Botanischen Gartens und Agrarinstituts in Buitenzorg/Java vorstellt, waren faktisch mehr Mythos als realer Erfolg. Ebenso wie wir es bereits aus Sven Beckerts Buch „King Cotton“ wissen, weigerten sich die meisten kolonisierten Farmer, auswärtige Pflanzen oder Sorten zu übernehmen; oft scheiterte der internationale agrarökonomische „Transfer“, den auch das ICI propagierte, an den klimatischen Bedingungen vor Ort.2 In Kapitel fünf beschreibt die Studie, wie die Mitglieder des ICI vor 1914 das Adat´, also das Gewohnheitsrecht in islamischen Dörfern und Regionen, zugunsten kolonialer Kontrolle und meist in Absetzung von der Scharia umzuwandeln suchten. Das Beispiel des französischen Rechtscode, den der Jurist Marcel Morand für Algerien entwarf, ist als solches überzeugend. Doch inwieweit solche kolonialen Politiken tatsächlich auf den seltenen Austausch vielbeschäftigter Spitzenbeamten und Gouverneure mit den Mitgliedern des ICI zurückgingen, deren Konferenzen in wechselnden europäischen Metropolen stattfanden, bleibt eher offen.

Besonders interessant sind vor allem diejenigen Kapitel, die sich mit der Kontinuität kolonialer Konzepte nach den großen Zäsuren der Empires von 1918 und 1945 beschäftigten. In Kapitel sechs skizziert Wagner die Linien des Internationalen Kolonialinstituts zwischen 1918 und den 1920er-Jahren und akzentuiert die Rivalität zur britisch dominierten Permanent Mandates Commission des Völkerbunds. Ob die „Repräsentation“ der Kolonisierten in der Zwischenkriegszeit die Frage ihrer „Partizipation“ wirklich überwog, wie Wagner behauptet, das halte ich indes für bezweifelbar. Der antinationalistischen Tendenz dieser elitären Organisation entsprach es, nicht die radikalen nationalistischen Diaspora-Gruppen in Paris oder London zu unterstützen, die wir aus Michael Goebels luzider Studie „An anti-imperial Metropolis“ nun besser kennen als zuvor.3 Vielmehr ging es eher darum, eine engere, freilich klar hierarchisierte Kooperation mit den lokalen Eliten in den Kolonien zu suchen. Ganz ähnliche Entwicklungen von liberalen Autonomiekonzepten hin zu faschistischen Standpunkten durchliefen in den 1920er- und 1930er-Jahren vergleichbare Organisationen wie der auf Minderheiten in den neuen Nationalstaaten Ostmitteleuropas konzentrierte „Europäische Nationalitätenkongress“.4

Im zeitgenössischen Raumbegriff „Eurafrika“, den Kapitel sieben skizziert, kondensierten sich dann unterschiedliche Positionen, die von Kulturrelativismus über ökonomische Arbeitsteilung bis hin zu faschistischen Positionen reichte. Wie vielschichtig diese Deutungen sein konnten, haben jüngst Jane Burbank und Frank Cooper eingehend analysiert.5 In den Kapiteln acht und neun verfolgt der Autor schließlich die Entwicklung des ICI während der späten Kolonialzeit und während der Dekolonisierung der 1960er- und 1970er-Jahre, welche der Organisation immer mehr ihre Daseinsberechtigung als Zulieferer und Ansprechpartner für koloniale Strategien nahm.

Florian Wagners Studie zum Internationalen Kolonialinstitut ist an empirischer Dichte und Gründlichkeit kaum zu übertreffen. Überaus detailreich lernen Lesende jede Verästelung dieser elitären Vereinigung kennen, die zwischen Think Thank, Kolonisierungsagentur und Herrenclub oszillierte. Dadurch lässt sich besser verstehen, wie nichtstaatliche Expertise sich partiell mit staatlicher Herrschaft verschränkte und in die eigentlichen Korridore der Macht in den jeweiligen Kolonialministerien hineinwirken konnte. Gerne hätte man noch etwas mehr über die Grenzen zwischen metropolitanen Diskursen und kolonialen Praktiken gelesen, auch wenn dies nicht die genuine Aufgabe einer Institutionenanalyse ist. Die Fülle extrem ausdifferenzierter Begriffe – zwischen Governmentality, Transimperialism, Transcolonialism, Emulative Development, um nur wenige Beispiele zu nennen – durchzieht den gesamten Text, erscheint jedoch nur bedingt hilfreich, um die einzelnen Phänomene und Stadien dieser kolonialen Diskurse und Praktiken wirklich zu erklären. Es bleibt auch abzuwarten, ob „transimperial“ wirklich der neue Turn in der Empire-Forschung wird, bringt er doch erneut, wenn auch nicht intendiert den starken Fokus auf der staatlichen Ebene durch die Hintertüre weitgehend zurück. Was die Lektüre dieser inhaltlich überaus fundierten Untersuchung indes erschwert, ist die trockene Sprache. Lesende müssen sich die Genese und Entwicklung des Internationalen Kolonialinstituts wirklich erarbeiten. Sie werden in jedes noch so kleine Detail eingeführt, ohne dass Beschreibung, Erklärung und Urteil durch Erzählungen ergänzt und veranschaulicht werden. Schließlich setzt die Studie mit ihrer ausgespreizten Begrifflichkeit und ihrer minutiösen Rekonstruktion ein erhebliches Vorwissen über koloniale Zusammenhänge voraus, das zumindest Studierende meist noch nicht mitbringen können. Trotz dieser Monita liegt eine hervorragend recherchierte Studie zu einer bislang wenig bekannten Ausprägung des internationalen Kolonialismus vor, welche die Fülle an Verflechtung und Wissenstransfer zwischen den europäischen Kolonialmächten im 20. Jahrhundert neu belegt.

Anmerkungen:
1 Volker Barth / Roland Cvetkovski (Hrsg.), Imperial Co-operation and Transfer, 1870–1930. Empires and Encounters, London 2015.
2 Sven Beckert, Empire of Cotton. A Global History, New York 2014.
3 Michael Goebel, Anti-imperial Metropolis. Interwar Paris and the Seeds of Third World Nationalism, Cambridge 2015.
4 Ulrike von Hirschhausen, From minority protection to border revisionism: The European Nationality Congress 1925–1945, in: Kiran Patel u.a. (Hrsg.), Europeanisation in the Twentieth Century, London 2010, S. 87–109.
5 Jane Burbank / Frederick Cooper, Post-imperial Possibilities. Eurasia, Eurafrica, Afroasia, Princeton 2023.